Im Zeitraum vom 1. März 2022 bis zum 1. August 2022 wurde in der Slowakei in 4.410 Fällen der temporäre Schutz zurückgenommen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn der/die Schutzberechtigte einen Asylantrag stellt, schriftlich den Verzicht auf den Schutzstatus erklärt oder ein anderer Staat zwischenzeitlich Schutz gewährt hat.
Autor: ms
Zum Besuch von Ylva Johansson in der Ukraine
Anfang dieser Woche besuchte Ylva Johansson, EU-Kommissarin für Inneres, die Ukraine. Ziel ihres Besuchs war es laut Pressemitteilung, gemeinsam mit den ukrainischen Behörden die Bedürfnisse der Kriegsflüchtlinge und insbesondere der schulpflichtigen Kinder zu evaluieren, die sich in der EU aufhalten oder bereits in die Ukraine zurückkehrt sind. Bisher haben in der EU rund 3,9 Millionen Ukrainer*innen temporären Schutz gemäß der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (sog. „Massenzustromrichtlinie“) beantragt. Wie es in der Pressemitteilung weiterhin heißt, wurden bisher etwa eine halbe Million ukrainische Kinder in den Schulsystemen der EU-Mitgliedstaaten registriert.
Während einer Pressekonferenz in Kiew verwies Johansson darauf, dass sie bei ihrer Einreise in die Ukraine mit dem Zug am polnisch-ukrainischen Grenzbahnhof viele Rückkehrer*innen gesehen habe, was sie ausdrücklich begrüße. In diesem Zusammenhang versicherte Johannson, dass Rückkehrer*innen jederzeit erneut in die EU kommen könnten. Nachdrücklich bat sie allerdings darum, dass sich Rückkehrer*innen im Falle einer dauerhaften Rückkehr in die Ukraine bei den zuständigen Behörden abmelden. Bei nur kurzzeitigen Reisen in die Ukraine sei dies nicht notwendig.
Dass dieser Aspekt von Johannson in der Ukraine ausdrücklich hervorgehoben wurde dürfte seinen Grund vor allem darin haben, dass sich momentan nur grob schätzen lässt, wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge sich tatsächlich (noch) in der EU aufhalten beziehungsweise in welchem Mitgliedstaat sie sich befinden.
Die Gesamtzahl der Ausreisen aus der Ukraine in die angrenzenden EU-Staaten seit Kriegsbeginn (ca. 8 Millionen) ist in diesem Zusammenhang wenig aussagekräftig. Denn dieser Zahl stehen nicht nur die Einreisen in die Ukraine aus der EU gegenüber (ca. 4 Millionen; allerdings ohne die Ausreisen aus Ungarn, da hier keine Daten verfügbar sind), sondern es muss auch berücksichtigt werden, dass viele Ukrainer*innen in den vergangenen Monaten – aus den verschiedensten Gründen – mehrfach ein- und ausgereist sind. Zudem ist zu bedenken, dass sich Mehrfachregistrierungen auch dadurch ergeben können, dass eine Person beispielsweise zunächst in den Nicht-EU-Staat Moldau und anschließend in den EU-Staat Rumänien und von dort weiter in den EU- und Schengenstaat Ungarn reist, wobei an jeder Grenze eine Passkontrolle durchgeführt wird.
Insofern ist die Gesamtzahl derjenigen, die temporären Schutz beantragt haben, tatsächlich derjenige Wert, der am geeignetsten erscheint, um Aussagen über Ausmaß und Verteilung der Fluchtbewegungen aus der Ukraine in die EU-Mitgliedstaaten zu treffen und der auch maßgeblich für die Verteilung von EU-Geldern sein dürfte. Dieser Wert ist jedoch natürlich nur dann valide, wenn Personen, die dauerhaft zurückkehren, wie von Johannson gefordert, ihren Schutz tatsächlich „zurückgeben“.
Ein weitere Variable, die aus Sicht der Kommission diesbezüglich zu berücksichtigen sein wird, ist die der mehrfachen Beantragung des temporären Schutzes in verschiedenen Mitgliedstaaten. Dafür mag es aus Sicht der Betroffenen durchaus gute Gründe geben. Zu nennen wäre beispielsweise die Situation, dass eine Person zunächst in einem Nachbarstaat der Ukraine temporären Schutz beantragt hat, weil sie davon ausging, bald zurückkehren zu können und dann feststellte, dass eine baldige Rückkehr doch nicht möglich ist und die längerfristigen Lebensperspektiven in einem EU-Staat bessere sind, etwa weil sich dort bereits Verwandte oder Freunde aufhalten.
Eine europaweite Datenbank zum Abgleich derjenigen Personen, die temporären Schutz erhalten haben, nahm am 31. Mai ihren Betrieb auf und wird nun „sukzessive durch die Mitgliedstaaten befüllt“.
Informationen zur Funktionalität dieser Datenbank und insbesondere dahingehend, wie viele Personen in mehr als einem Mitgliedstaat temporären Schutz beantragt haben, sind bisher nicht verfügbar.
Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass insbesondere aus den beiden zuvor genannten Gründen – also die dauerhafte Rückkehr in die Ukraine und die Möglichkeit der Mehrfachantragstellung in verschiedenen EU-Staaten – die tatsächliche Zahl der ukrainischen Kriegsflüchtlinge, die sich aktuell in der EU aufhalten, tatsächlich weitaus geringer ist, als die anfänglich erwähnten 3,9 Millionen.
Auf der Webseite von Pro Asyl findet sich ein ausführlicher Artikel von Pro Asyl und bordermonitoring.eu zur Situation von ukrainischen Geflüchteten in Ungarn.
Auf Basis von fast 5.000 Interviews hat der UNHCR eine aufschlussreiche Studie zum Hintergrund und den weiteren Plänen von ukrainischen Geflüchteten veröffentlicht, die sich gegenwärtig in Tschechien, Ungarn, Moldau, Polen und der Slowakei aufhalten.
Die zentralen Erkenntnisse sind:
- Insgesamt 73 Prozent der Befragten sind nicht alleine aus der Ukraine ausgereist: 18 Prozent der Befragten sind in Begleitung von mindestens einem Kleinkind (bis vier Jahre) ausgereist, 53 Prozent sind mit mindestens einem minderjährigen Kind im Alter von fünf bis 17 Jahren ausgereist. 21 Prozent der Befragten sind in Begleitung von mindestens einer Personen über 60 Jahren ausgereist, 23 Prozent sind in Begleitung von mindestens einer Personen mit besonderen Bedürfnissen ausgereist.
- Lediglich 74 Prozent der Befragten besitzen den für die Einreise in die EU eigentlich notwendigen biometrischen Reisepass.
- 52 Prozent der Befragten haben einen Universitätsabschluss, 25 Prozent haben eine Berufsausbildung. Es lässt sich insofern festhalten, dass insbesondere die gebildete Mittelschicht aus der Ukraine geflüchtet ist.
- 65 Prozent der Befragten wollen im gegenwärtigen Aufnahmestaat bleiben, nur neun Prozent planen im kommenden Monat in einen anderen Aufnahmestaat weiterzureisen.
Die EU-Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (sogenannte „Massenzustromrichtlinie“) sieht unter Artikel 10 vor, dass die Mitgliedstaaten ein Register über die Personen erstellen, denen sie vorübergehenden Schutz gemäß der Richtlinie gewährt haben. Ende März schlug die EU-Kommission vor, eine europaweite Datenbank zum Austausch dieser Daten einzurichten.
Wie sich einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken entnehmen lässt, nahm diese Datenbank („TDP-Plattform“) am 31. Mai ihren Betrieb auf und wird nun „sukzessive durch die Mitgliedstaaten befüllt“.
In Deutschland ist die Rechtsgrundlage hierfür § 91a AufenthG, der vorsieht, dass bereits Antragsteller*innen in einem vom BAMF geführten Register erfasst werden. Zum 1. Juni wurde § 91a Abs. 5 dahingehend ergänzt, dass die Daten nunmehr auch mit den Mitgliedstaaten der EU und der EU-Kommission geteilt werden dürfen.
Gespeist wird der deutsche Datensatz gegenwärtig aus dem Ausländerzentralregister (AZR). Geplant ist, dass FREE, eine neu eingeführte webbasierte Anwendung zur Verteilung der ukrainischen Geflüchteten innerhalb Deutschlands, zeitnah auch die Funktion der Registerführung übernimmt.
Relevant ist der europaweite Datenaustausch in Hinblick auf die Geflüchteten aus der Ukraine vor allem deswegen, da
[b]ei Vorliegen der Voraussetzungen […] ein entsprechender Auf- enthaltstitel zu erteilen [ist], auch wenn der Betroffene bereits in einem anderen Mitgliedstaat einen entsprechenden Aufenthaltstitel erhalten hat. Die sich aus dem vorübergehenden Schutz ergebenden Rechte können jedoch nur in jeweils einem Mitgliedstaat geltend gemacht werden.
Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Linken
Mit der Einführung der Registrierungsplattform soll also insbesondere vermieden werden, dass Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gleichzeitig in mehreren Staaten Leistungen beziehen.
Update Moldau
Vor zwei Wochen haben wir einen ausführlichen Artikel zur Situation ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Moldau veröffentlicht. In diesem thematisierten wir auch, dass in Moldau kein Schutz gemäß der „Richtlinie zum vorübergehenden Schutz“ existiert, da das Land kein EU-Mitglied ist. Geflüchteten steht daher nur der Weg ins Asylverfahren offen, um ihren Aufenthalt längerfristig zu sichern. Weiterhin schrieben wir:
„Grundsätzlich dürfen sich ukrainische Staatsangehörige bis zu 90 Tagen ohne spezielle Erlaubnis in Moldau aufhalten, wobei davon auszugehen ist, dass diese Frist vor dem Hintergrund der Verlängerung des Ausnahmezustandes zwischenzeitlich verlängert beziehungsweise aufgehoben wurde“.
Nun wissen wir es sicher: Laut einem kürzlich veröffentlichten Dokument des UNHCR ist seit dem 18. Mai 2022 eine Regelung in Kraft, die vorsieht, dass ukrainische Staatsangehörige zumindest solange im Land bleiben dürfen, wie der Ausnahmezustand gilt. Auch ohne die Stellung eines Asylantrags haben sie das Recht zu arbeiten, eingeschränkte Gesundheitsversorgung zu erhalten, etc. Der UNHCR äußert jedoch Bedenken dahingehend, dass unklar sei, was passiere, wenn der Ausnahmezustand aufgehoben wird und wie mit Drittstaatenangehörigen aus der Ukraine verfahren wird.
Weiterhin berichtet der UNHCR:
- Minderjährige Ukrainer*innen haben nunmehr kostenfreien und uneingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung.
- Bis zum 15. Juni 2022 wurden 1.623 Menschen aus Moldau in EU-Staaten ausgeflogen, 11.360 Menschen verließen das Land über den „Green Corridor“.
- In Transnistrien halten sich gegenwärtig 4.000 bis 6.000 ukrainische Geflüchtete auf.
Interessante Einblicke in die Lebensrealität der etwa 80.000 Ukrainer*innen, die sich aktuell in Moldau aufhalten, bietet eine kürzlich veröffentlichte Studie. Auf Basis der vorliegenden Daten, die aus Befragungen von Familien resultieren, zeichnet sich das folgende Bild:
- Die Mehrheit der Familien stammt aus der Region Odessa.
- Etwa Zweidrittel der Familienmitglieder sind Frauen. Dies erklärt sich dadurch, dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren nur in Ausnahmefällen aus der Ukraine ausreisen dürfen.
- Jeweils etwa ein Viertel der Familien lebt aktuell in einem Hotel oder einer anderweitigen, privat angemieteten Unterkunft. Etwa ein Drittel der Familien ist bei Familienangehörigen oder bei moldauischen Gastfamilien untergebracht. Nur knapp über ein Zehntel der Familien wohnt in staatlichen Camps.
- Etwa Dreiviertel der Haushaltsvorstände gehen in Moldau keiner Erwerbstätigkeit nach. Dies mag auch daran liegen, dass über die Hälfte der befragten Personen angibt, dass für die Integration in den lokalen Arbeitsmarkt das Erlernen einer neuen Sprache notwendig sei.
- Weitaus weniger als 10 Prozent der Familien planen, zeitnah in einen anderen Staat weiterzureisen. Nur etwa 10 Prozent ziehen in Betracht, zeitnah in die Ukraine zurückzukehren.
- Bisher besuchen relativ wenige ukrainische Kinder eine Schule oder einen Kindergarten in Moldau.
- Knapp 15 Prozent der befragten Familien haben bisher Gesundheitsversorgung in Moldau in Anspruch genommen.
Wie bereits in unserem Artikel zu Moldau herausgestellt, hängen die weiteren Entwicklungen in Moldau untrennbar mit dem weiteren Verlauf des Krieges zusammen: Sollte Odessa Ziel verstärkter Angriffe werden, ist damit zu rechnen, dass innerhalb kürzester Zeit Zehn- oder sogar Hunderttausende Geflüchtete nach Moldau kommen werden.
Anträge auf vorübergehenden Schutz
Laut Daten des UNHCR haben bis zum 21. Juni 2022 insgesamt knapp über 3.5 Millionen Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine einen Antrag auf Gewährung vorübergehenden Schutzes im Ausland gestellt.
Die meisten Anträge verzeichnen Polen (etwa 1.2 Millionen) und Deutschland (etwa 780.000). In der Slowakei wurden etwa 80.000, in Rumänien etwa 40.000 und in Ungarn etwa 25.000 Anträge gestellt.
Aus mehreren Gründen sind diese Zahlen jedoch mit Vorsicht zu interpretieren:
1. Es ist davon auszugehen, dass viele eigentlich antragsberechtigte Personen bisher keinen Antrag gestellt haben, etwa aufgrund bürokratischer Hindernisse, mangelnder Information über die Option einer Antragstellung oder weil sie von der Möglichkeit einer baldigen Rückkehr in die Ukraine ausgehen.
2. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass viele Menschen, die einen Antrag gestellt haben, zwischenzeitlich in sichere Gebiete in der Ukraine zurückgekehrt sind.
3. Überdies ist zu bedenken, dass die Möglichkeit einer mehrfachen Antragstellung in verschiedenen Staaten besteht.
4. In Nicht-EU Staaten existiert kein Schutzstatus gemäß der „Massenzustromrichtlinie“. So etwa in Moldau, wo nur die Möglichkeit einer Asylantragstellung besteht.
Vor diesem Hintergrund geben die genannten Zahlen zwar einerseits wichtige Hinweise darauf, in welchen Staaten sich aktuell wie viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufhalten. Andererseits sollten die Antragszahlen nicht ohne weiteres mit den Personen gleichgesetzt werden, die sich tatsächlich im jeweiligen Land befinden. Es ist davon auszugehen, dass hier in der Realität erhebliche Differenzen auszumachen sind.
Auf der Webseite von Pro Asyl findet sich ein ausführlicher Artikel von Pro Asyl und bordermonitoring.eu zur Situation von ukrainischen Geflüchteten in Moldau.
Solidarität in Bukarest
Am Bukarester Nordbahnhof kommen täglich mehrere Hundert Geflüchtete aus der Ukraine an. Bereits kurz nach Beginn des Krieges hat sich am Bahnhof eine beeindruckende Hilfsstruktur herausgebildet. Besonderer Fokus liegt hierbei auf der Erstversorgung von geflüchteten Kindern.
Bisher konnten private Haushalte in Polen, die ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen haben, eine staatliche Kompensation in Höhe von etwa acht Euro pro Person und Tag beantragen. Laut Regierungsangaben profitierten von dieser Regelung im April 2022 etwa 600.000 Ukrainer*innen. Wie die Regierung nun bekannt gab, wird das Programm im Juli 2022 eingestellt. Davon ausgenommen ist die Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Personen, wie etwa schwangeren Frauen oder behinderten Menschen.